Gogo (auf Raten; I)

1.

Er ahnte nicht, was an diesem Tag auf ihn zukommen würde, als er, wie jeden Tag, das weiße kristalline Pulver sorgfältig in die Öffnung einer kleinen Kugel stopfte. Mit akribischer Genauigkeit, einer Sorgfalt, die für ihn in seinem bisherigen Leben unüblich gewesen war, machte er es sich seit einigen Wochen zum täglichen Ritual, die schimmernden Glaskugeln mit einem kleinen Bohrer sorgfältig zu durchstoßen, um sie ebenso sorgfältig gefüllt, auf eine dünne Schnur zu fädeln.

Er rieb sich die Augen, müde von der Anstrengung seines fixierten Blicks im spärlichen Licht des Winternachmittags. Ein Blick auf seine Uhr verriet ihm, dass er schon wieder vier Stunden daran gesessen hatte, viel zu lange, um sich noch ausreichend länger konzentriert seinem Vorhaben widmen zu können. Er seufzte, hievte seinen wabbeligen Körper hoch, zog sein viel zu kurzes Shirt in Richtung Nabel und torkelte.

Bereits vor Jahren riet ihm sein Vater dazu, Ordnung in seinem Leben zu machen, sich um die Zukunft zu kümmern, vorzusorgen.
Hab ich einen Baum gepflanzt: Nein! Ein Haus gebaut: Nein. Ein Kind gezeugt? Vielleicht!“ murmelte er etwas benommen vor sich hin, während er, in seiner väterlichen Satire versunken über die leeren Bierdosen unter seinem Teppich stolperte und seinen Kopf in die darüber liegende Tischkante rammte. „Verdammter Scheißdreck“ – fluchte er und tat dies weniger seines Kopfes wegen als vielmehr aus Zorn darüber, die wertvollen Reste des übrigen Pulvers in einer Biersuppe am alten Parkett unter seinen Beinen schwimmen zu sehen. Er musste vorsichtiger sein. Solche Aktionen konnte er sich nicht mehr leisten.

Seufzend zog er das Päckchen unter der Couch hervor, nahm eine der wohldosierten Kapseln, nicht zu viel und nicht zu wenig, gerade richtig, um noch für weitere zwei Stunden seine Aufmerksamkeitsspanne zu erhöhen. Denn: Er musste fit sein. Achtsam klopfte er sich eine Line zurecht, zog sich selbige durch die Nase und schnupfte mehrmals tief, bis er das kurze, stechende Brennen seinen Rachen hinablaufen fühlte. Für gewöhnlich dauerte es eine gute viertel Stunde, bis die erste Wirkung zu spüren war. Bis dahin: Musste er sich anstrengen, um konzentriert zu bleiben, um keine der akribisch vorbereiteten Kugeln zu vergessen.

Er schlüpfte in seine Jacke, klopfte kontrollierend auf seine Brusttaschen, zog seine Hose höher und schnallte den Gürtel enger. So, murmelte er, rümpfte die Nase, bückte sich, um die umgeworfene Bierdose aus der Lacke zu heben und schüttelte sie erwartungsvoll, um sich den letzten Schluck darin einzuverleiben. Abgestanden, aber gut. Er packte sein Rollköfferchen, prüfte, ob die Ware darin gut gebettet war, zog seine Springerstiefel über die zerschlissene Hose und steckte sich die Musikbeschallung in die Ohren, die seine tägliche Dröhnung noch intensiver werden ließ.

Sorgfältig, als wäre es zum letzten Mal, als würde er sich nichts nachsagen lassen wollen, sperrte er seine Haustüre zu, sperrte an jedem ihrer zwei Schlösser zweimal ab, drückte die Klinge nach unten, um sich zu versichern, dass das Schloss hielt, schob die darunter liegende Fußmatte mit seinem linken Bein unbeholfen aber bemüht gerade und torkelte die steinernen Fließen vom ersten Stock seines Gemeindebaus hinab ins Freie…


Kommentar verfassen

Trage deine Daten unten ein oder klicke ein Icon um dich einzuloggen:

WordPress.com-Logo

Du kommentierst mit Deinem WordPress.com-Konto. Abmelden /  Ändern )

Twitter-Bild

Du kommentierst mit Deinem Twitter-Konto. Abmelden /  Ändern )

Facebook-Foto

Du kommentierst mit Deinem Facebook-Konto. Abmelden /  Ändern )

Verbinde mit %s

Bloggen auf WordPress.com.

%d Bloggern gefällt das: