Gogo (auf Raten V)

Als Leserin musst du Folgendes wissen:
Als Gogo den Brief zum ersten Mal in seinen Händen hielt, war er nicht im Entferntesten erleichtert. Fernab von hoffungsvollen Gedanken, löste der Brief in ihm noch vor wenigen Tagen eine maßlose Wut aus. Überzeugt davon, dass sich jemand mit ihm einen schlechten Scherz erlaubte, malte er sich unterschiedlichste Szenarien aus, wie es dem Unbekannten gelungen sein konnte, ihn – wohl mittels gemeingefährlicher Substanzen – aus dem Verkehr zu ziehen, seines Ichs zu berauben. Es musste sich um einen Verbrecher der übelsten Sorte handeln, um jemanden, der nicht davor zurückschreckte, andere um sich selbst zu bringen und sie – wie er vermutete – anschließend skrupellos zu erpressen.

Tagelang wurde Gogo ganz seine Wut, zerknüllte den Brief, katapultierte ihn mit einem Kampfesschrei in den Papierkorb, stapfte, brüllte und schwitzte – fühlte sich in seinem Rasen scharfkantiger als zuvor. Wutentbrannt rauschte er immer wieder am Papierkorb vorbei, um das zerknüllte Papier und damit den ihm unbekannten Feind mit einem missachtenden Blick zu strafen. Das Bild seines Widersachers schien in ihm mit jedem bösen Blick mehr Form anzunehmen und sein Kampf gegen Unbekannt verlieh ihm Kräfte, die er selbst nicht benennen konnte. Es war, als hätte er plötzlich ein Ziel vor Augen.

Was du auch wissen musst:
Gogo war noch nie besonders zielstrebig gewesen. Weder hatte er sich in seinem Leben bisher um die Vorsorgewünsche seines Vaters gekümmert noch darum, etwaigen anderen Lebenszielen zu folgen. „Von drückenden Pflichten kann uns nur die gewissenhafte Ausübung befreien“ zitierte sein Vater mindestens einmal die Woche Goethe, um ihn mit scharfem Blick daran zu erinnern, dass es ihm an Pflichtbewusstsein mangelte. In der Tat könnte man als Außenstehender behaupten, es hätte Gogo doch schlimmer treffen können. Seine Eltern wären anständige Menschen gewesen, sauber und ehrlich, gut bürgerlich – ganz adrett. Das Existenzminimum seiner Familie wäre stets gesichert gewesen, für sein körperliches Wohl war stets gesorgt. Gogo musste sich nie Sorgen darüber machen, ob seine Eltern es schaffen würden, die nächste Kreditrate für ihr, nach langen und reiflichen Überlegungen doch etwas größer – weil Wertanlage – angelegtes Eigenheim auszulegen. Schließlich würde ja auch er, so hofften sie, mit seiner Familie einmal davon profitieren. Das Beste – nur für ihn.
Das Beste aber fügte sich für Gogo nicht, es schmiegte sich nicht an ihn. Das Beste schnürte seine Bauchgegend ein, war ein eng und sauber zu haltender Kragen – die Krawatte mit dem unmöglich zu bindenden Knoten darum nicht zu vergessen. Das Beste – so fand Gogo – war es, zu schlafen und zu träumen: so oft und so lange es ging. Sein Wachleben und Vaters Ziele: Das waren polierte Lackschuhe mit dem Fehlen eines Funkens Hoffnung, je dreckig gemacht zu werden.

Und so setzte sich Gogo tatsächlich ein Ziel, ohne zu bemerken, dass es sich dabei um eines handelte: Das Ziel, keine Ziele im Leben zu haben und so viel Lebenszeit wie möglich zu verträumen. Er schlief täglich so lange er konnte, beherrschte rasch das luzide Träumen, half mal mit dem einen Mittelchen, mal mit der anderen Substanz nach, seine Nächte traumreicher und schließlich auch seine Tage bunter zu machen. Entgegen vielen Vermutungen war es ihm von Anfang an ein Leichtes gewesen, seinen Stoff zu besorgen und so verbrachte Gogo seine Jugend in einem Zustand des Rausches, stets auf der Suche nach mehr Farbe und Licht. Er war der Herrscher seines eigenen Traumreiches, Herrscher seines eigenen Universums.

Und nun? Gogo war weit entfernt davon, Herr seines Universums zu sein. Er hatte die Kontrolle über sein Wachleben schon lange verloren und träumte auch schlafend, seit mittlerweile exakt 93 Tagen, nicht mehr.

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